- Gandhi
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GandhiNach der Niederschlagung des großen Aufstands (»mutiny«) von 1857/58 gegen die britische Kolonialherrschaft wurde die Ostindische Kompanie aufgelöst und Indien unmittelbar der britischen Krone unterstellt. Ausgangspunkt der indischen Freiheitsbewegung war 1885 die Konstituierung des Indian National Congress (INC) in Bombay. Ihm gehörten Teile der indischen Bildungselite, überwiegend Hindus, aber auch einige Briten an. 1906 wurde die All India Muslim League gegründet, um die muslimische Minderheit an den politischen Körperschaften in den Provinzen zu beteiligen.In der Folgezeit wurden begrenzte Mitwirkungsrechte der Inder an der Regierung erreicht, insbesondere 1918 in den Reformen von Edwin Montagu, dem neuen britischen Indienminister, und Frederick Chelmsford, dem Vizekönig (»viceroy«). In Anerkennung der von Indien im Weltkrieg getragenen Lasten wurde den Indern nach dem Prinzip der »Dyarchie« zwar eine Teilmitwirkung an den Provinzregierungen eingeräumt, die Kontrolle über zentrale politische Bereiche blieb jedoch in britischer Hand.In Protestaktionen gegen die Verzögerung dieser Reformen trat erstmals Mohandas Karamchand Gandhi hervor, Mahatma (Sanskrit »dessen Seele groß ist«) genannt. Gandhi, 1869 in Porbandar im Bundesstaat Gujarat geboren, hatte in London Jura studiert und in Südafrika von 1893 bis 1914 in den Auseinandersetzungen um die politischen Rechte der indischen Einwanderer dort seine Methode des gewaltlosen Widerstands entwickelt. Dieser bestand in der Verweigerung der Mitarbeit in Behörden (»noncooperation«) und zivilem Ungehorsam (»civil disobedience«); für bewusste Gesetzesübertretungen wurden Gefängnisstrafen in Kauf genommen. 1914 nach Indien zurückgekehrt, propagierte Gandhi in Ergänzung dazu den Boykott britischer Waren (besonders Textilien) und aktivierte die gegen das britische Textilmonopol gerichtete häusliche Handspinnerei. Die von INC und Muslim League gemeinsam getragene Satjagraha-Kampagne (»Ergreifen der Wahrheit«) 1920/22 brach Gandhi nach dem Ausbruch blutiger Ausschreitungen seiner Anhänger ab.Nachdem Indien der geforderte Dominionstatus von der britischen Regierung verweigert worden war, kam es zu einer weiteren Massenkampagne, dem »Salzmarsch«: Gandhi und seine Anhänger gewannen eigenhändig Salz aus dem Meer, verstießen damit bewusst gegen das Monopolgesetz und ließen sich verhaften. Roundtable-Konferenzen 1930 und 1931 in London endeten ergebnislos. Der dann ohne indische Beteiligung zustande gekommene Government of India Act von 1935, eine Verfassungsreform, die einen Bundesstaat vorsah, scheiterte an der ablehnenden Haltung der indischen Fürsten.Die weitere Entwicklung der Unabhängigkeitsbewegung in Indien war gekennzeichnet durch zunehmende Interessenkonflikte zwischen INC und Muslim League, die unter Führung Mohammad Ali Jinnahs nach 1934 für ein unabhängiges Pakistan eintrat. Gandhi, der 1934 aus dem INC austrat, setzte sich nun vor allem für die »Parias«, die »Unberührbaren« ein. 1947 half er blutige Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Muslimen schlichten, die schließlich zur Unabhängigkeit Indiens und Pakistans führten. Gandhi wurde am 30. Januar 1948 von einem fanatischen Hindu in Delhi erschossen.Durch seine Methoden des gewaltlosen Widerstands zur Durchsetzung politischer Ziele wurde Gandhi besonders für die Bürgerrechtsbewegungen der Sechzigerjahre zur Symbolfigur. In Indien gilt Gandhi als entscheidender Wegbereiter für die Unabhängigkeit des Subkontinents von der britischen Kolonialherrschaft.IIGạndhi,1) Indira Priyadarshini, indische Politikerin, * Allahabad 19. 11. 1917, ✝ (ermordet) Neu-Delhi 31. 10. 1984, Mutter von 3); Ȋ (1942-47) mit dem Politiker Feroze Gandhi (✝ 1960); 1946-64 politische Beraterin ihres Vaters J. Nehru, 1959 zur Präsidentin des Indischen Nationalkongresses (Indian National Congress, INC) gewählt, 1964-66 Ministerin für Information und Rundfunk.1966 wurde Gandhi Premierministerin und bekleidete daneben auch mehrere Ministerämter (u. a. 1967-77 Atomenergie, 1967-69 Äußeres, 1969-70 Finanzen, 1970-73 Inneres). Als Regierungschefin sah sie sich besonders mit Problemen der wirtschaftlichen Unterentwicklung und des Bevölkerungswachstums konfrontiert. Ihr sozialistisch beeinflusstes Regierungsprogramm (u. a. Verstaatlichung der Banken, 1969) führte zur Spaltung des regierenden INC. Der von ihr geführte »neue« INC errang 1971 einen hohen Wahlsieg. Außenpolitisch setzte sie die Politik der Blockfreiheit fort, legte dabei jedoch Wert auf gute Beziehungen zur UdSSR (1971 Abschluss eines indisch-sowjetischen Freundschaftsvertrags). Im indisch-pakistanischen Krieg (Dezember 1971) setzte sie die Unabhängigkeit Ostpakistans (seitdem Bangladesh) durch.Als das oberste Gericht 1975 Gandhi für schuldig befand, 1971 Beamte für Wahlkampfzwecke gesetzwidrig eingesetzt zu haben, und die Opposition daraufhin ihren Rücktritt forderte, verhängte sie den Ausnahmezustand und ließ viele politische Gegner verhaften. Ihr autoritärer innenpolitischer Kurs und der Aufstieg ihres jüngsten Sohnes Sanjay (* 1946, ✝ 1980) zu ihrem maßgeblichen Berater verstärkten die Unzufriedenheit mit ihrem Regierungsstil und führten 1977 zur Wahlniederlage ihrer Partei und zu ihrem Rücktritt als Premierministerin. Nach innerparteilichen Spannungen um ihre Person löste Gandhi die zweite Spaltung des INC aus und setzte sich 1978 an die Spitze des von ihren Anhängern gegründeten Indian National Congress (Indira) und führte ihn dank ihres Ansehens v. a. bei den ärmeren Schichten 1980 zu einem großen Wahlerfolg. Sie wurde erneut Premierministerin; neben den weiter bestehenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen sah sie sich nun auch verstärkt religösen und ethnischen Spannungen gegenübergestellt. Seit 1983 war sie Sprecherin der blockfreien Staaten.Nach der Erstürmung des von radikalen Anhängern eines unabhängigen Sikh-Staates (Sikhs) besetzten »Goldenen Tempels« von Amritsar durch indische Truppen fiel Gandhi einem Attentat zweier ihrer Leibwächter, die der Sikh-Gemeinschaft angehörten, zum Opfer.Werke: My truth (1981); Peoples and problems (1982).I. Malhotra: I. G. (a. d. Engl., 1992).2) Mohandas Karamchand, genannt Mahatma [Sanskrit »dessen Seele groß ist«], Führer der indischen Unabhängigkeitsbewegung, * Porbandar 2. 10. 1869, ✝ (ermordet) Neu-Delhi 30. 1. 1948; entstammte der Hindukaste der »Vaishyas« (Kaufleute). Sein Vater Karamchand Gandhi war Chefminister des unter britischer Oberherrschaft stehenden Fürstentums Porbandar. Nach einem Studium der Rechte in London (1888-91) ließ er sich in Rajkot und Bombay als Rechtsanwalt nieder.1893 ging Gandhi aus beruflichen Gründen nach Südafrika in die britische Kronkolonie Natal. Mit der Gründung des »Natal Indian Congress« (1894) organisierte er erstmals den Widerstand der indischen Einwanderer gegen diskriminierende Gesetze (z. B. Aberkennung des Stimmrechts). Er stieg seitdem zum politischen Führer der indischen Bevölkerung in Südafrika auf. 1906-13 lenkte er in Transvaal eine Kampagne für die Anerkennung der bürgerlichen Rechte seiner Landsleute.Seit seiner Kindheit von hoher Religiosität und asketischer Lebensweise bestimmt, entwickelte Gandhi unter dem Einfluss der altindischen Lehre des Ahimsa, der christlichen Bergpredigt und der Ideen L. N. Tolstojs Formen des gewaltlosen Kampfes, die er erstmals in Südafrika anwendete. Er forderte seine Anhänger auf, im Zeichen des »Satyagraha« (Hingabe an die Wahrheit) an dem als wahr Erkannten festzuhalten und sich aus diesem Wissen heraus gewaltlos dem Unrecht und der Gewalt entgegenzustellen.1914 kehrte Gandhi nach Indien zurück. Unter dem Eindruck der blutig verlaufenen Auflösung einer indischen Protestversammlung in Amritsar durch britische Truppen (1919) löste er 1920 die erste Kampagne des zivilen Ungehorsams aus, in deren Verlauf (bis 1922) er zum herausragenden Führer der indischen Nationalbewegung wurde. Gestützt auf den Indischen Nationalkongress (Indian National Congress, INC), den er zu einem weit verzweigten und in allen Bevölkerungsschichten anerkannten Instrument des indischen Unabhängigkeitskampfes machte, setzte Gandhi eine Massenbewegung in Gang, die durch »Asahayoga« (Nichtbeteiligung) an den Institutionen der britisch-indischen Regierung (z. B. in Verwaltung, Gerichts-, Schul- und Bildungswesen) die britische Regierung zu Zugeständnissen in der Unabhängigkeitsfrage zu zwingen suchte. Eingeschlossen in diese Aktionen war der Boykott britischer Firmen und ihrer Produkte. In Ergänzung dazu regte Gandhi 1921 die Aktivierung der in der handwerklichen Tradition Indiens wurzelnden häuslichen Handspinnerei an, um sein Land von der britischen Textilindustrie unabhängig zu machen. Im März 1922 wurde er verhaftet und zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt, aber im Dezember 1924 wegen Krankheit begnadigt. Er hielt sich nun mehrere Jahre von politischer Agitation fern und widmete sich der Aufgabe, der im hinduistischen Denken verankerten gesellschaftlichen Ächtung der »Parias« (Unberührbaren), das heißt derer, die keiner Kaste angehörten, entgegenzuwirken.Nachdem sich die britische Regierung geweigert hatte, der auf eine Inititative Gandhis zurückgehenden Forderung des INC zu entsprechen, Indien den Dominionstatus zu gewähren, löste Gandhi 1930 die zweite Kampagne des zivilen Ungehorsams aus. Im Sinne seiner Strategie der gewaltlosen Überschreitung ungerechter Gesetze führte er Hunderttausende von Menschen in einem Demonstrationsmarsch zum Meer, um auf diese Weise gegen das Salzmonopol-Gesetz der britisch-indischen Regierung zu protestieren (»Salzmarsch«, 12. 3.-6. 4. 1930). Danach erneut verhaftet, nahm Gandhi 1931 nach seiner Haftentlassung an einer Verfassungskonferenz in London teil, drang dabei jedoch nicht mit seinen Forderungen durch. Nach 1932 war er wiederholt im Gefängnis. Er führte dort mehrfach ein langes Fasten durch, um gegen die von ihm als unzulänglich betrachteten britischen Verfassungspläne für Indien zu protestieren; gleichermaßen wandte er sich mit solchen Aktionen auch gegen Tendenzen, den »Parias« die volle staatsbürgerliche Gleichstellung vorzuenthalten. 1934 legte er die Führung des INC nieder und trat aus ihm aus, da er glaubte, dass dessen maßgebliche Mitglieder das Prinzip der Gewaltlosigkeit nur als ein politisches Mittel, nicht als ein umfassendes gesellschaftliches Grundbekenntnis verstanden.Im Zweiten Weltkrieg forderte Gandhi die sofortige Entlassung Indiens in die Unabhängigkeit (»Quit India«) und brachte die auf Verzögerung angelegten Pläne der britischen Regierung (Mission von S. Cripps 1942) zum Scheitern. Nach Kriegsende suchte er vergeblich, die Einheit Indiens zu bewahren und die blutigen Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Muslimen bei der Teilung des Subkontinents zu verhindern. Mit einer Fastenaktion konnte Gandhi 1947 blutige Ausschreitungen in Kalkutta beenden. 1948 fiel er dem Attentat eines jungen Hindufanatikers zum Opfer.Werke: The story of my experiments with truth, 2 Bände (1927-29; deutsch Eine Autobiographie oder die Geschichte meiner Experimente mit der Wahrheit); Satyagraha in South Africa (1928).Ausgaben: The collected works, herausgegeben von B. Kumarappa, 90 Bände (1958-84); Selected writings, herausgegeben von R. Duncan (Neuausgabe 1971); Ausgewählte Texte, herausgegeben von R. Attenborough (21983).I. Rothermund: The philosophy of restraint. M. G.'s strategy and Indian politics (Bombay 1963);O. Wolff: Mahatma G. Politik u. Gewaltlosigkeit (1963);Dharma Vir: G. bibliography (Chandigarh 1967);R. A. Huttenback: G. in South Africa. British imperialism and the Indian question, 1860-1914 (Ithaca, N. J., 1971);J. M. Brown: G. and civil disobedience. The Mahatma in Indian politics, 1928-34 (ebd. 1977);B. R. Nanda: Mahatma G. A biography (Neuausg. Delhi 1981);B. R. Nanda: G. and his critics (ebd. 1985);C. Kytle: G., soldier of nonviolence (Neuausg. Cabin John, Md., 1982);G. Richards: The philosophy of G. (London 1982);G. Gold: G. Eine bebilderte Biogr. (a. d. Amerikan., 1983);E. H. Erikson: G.s Wahrheit (31984);G. Woodcock: Mahatma G. Festhalten an der Wirklichkeit (Neuausg. 1986);I. Jesudasan: Mahatma G.s Weg zur Freiheit (a. d. Engl., Olten 1987);H. Rau: Mahatma G. mit Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten (108.-112. Tsd. 1987);S. Grabner: Mahatma G. Politiker, Pilger u. Prophet (Neuausg. 1992);Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:Indien: Gandhis Einsatz im indischen FreiheitskampfIndien: Die Teilung des indischen Subkontinents nach dem Zweiten Weltkrieg3) Rajiv, indischer Politiker, * Bombay 20. 8. 1944, ✝ (ermordet) Sriperumbudur (Tamil Nadu) 21. 5. 1991, Sohn von 1); zunächst Pilot bei der indischen Luftfahrtgesellschaft »Indian Airlines«; wurde erst nach dem Tod seines bei einem Flugzeugabsturz umgekommenen Bruders Sanjay (* 1946, ✝ 1980), der ab 1975 maßgeblicher Berater seiner Mutter gewesen war, politisch aktiv. 1981 als Abgeordneter in die Lok Sabha gewählt und 1983 zu einem der fünf Generalsekretäre des »Indian National Congress (Indira)« (Abkürzung INC [I] berufen, übernahm Gandhi nach der Ermordung seiner Mutter (1984) das Amt des Premierministers und die politische Führung der Partei. Nach der Wahlniederlage des INC (I) im November 1989 trat er als Regierungschef zurück. Während des Wahlkampfes 1991 wurde er durch ein (nach indischen Angaben von der tamilischen Guerillaorganisation »Liberation Tigers of Tamil Eelam« verübtes) Bombenattentat getötet. Seine Witwe Sonia Gandhi (* 1946), eine gebürtige Italienerin, wurde 1998 Präsidentin der Kongresspartei (2000 bestätigt) und nach einer schweren Wahlniederlage ihrer Partei 1999 Oppositionsführerin im Parlament.
Universal-Lexikon. 2012.